Sommerzeit –
lange milde Abende. Da ist die Dorfjugend draußen. Spielen, Lachen, Scherzen.
Der Sommer 1945 ist warm und sonnig. Der Krieg ist vorbei, überall regt sich neues Leben. Auch in der Kirche. Herz und Sinn genießen die Freiheit, Glocken dürfen wieder klingen.
Unsere Dorfkirche hatte nur noch eine. Die kleine. Die beiden größeren Glocken wurden, wie anderswo auch, in den letzten Kriegsjahren von vielen Kirchtürmen heruntergeholt und abtransportiert. Wurden als Rohstoff für Panzer und Kanonen eingeschmolzen.
Glockengeläut
Aber jetzt kann und soll die kleine, die Gebetsglocke, wieder erklingen! Zum Läuten werden zuverlässige Menschen gesucht. Unsere Mutter meldet sich. Sie bekommt den Auftrag, täglich mittags um 12 Uhr zur Mittagspause zu läuten und zum Feierabend, wenn es dämmert. Dem Sonnenuntergang folgend wird das abendliche Läuten monatlich um eine Stunde verschoben. Die Zeit soll genau eingehalten werden. Klappt natürlich nicht immer. Aber das hat offenbar niemanden gestört, die Sonne ist ja auch nicht immer zu sehen.
Mittagsläuten – Abendläuten
Zur Mittagszeit läutet die Mutter selbst, zum Abendläuten meistens ich. Aber ich bin auch gern bei der Dorfjugend draußen! Aber wenn es dämmert muss ich los. Schnell zur Kirche eilen, aufsperren, Treppen hoch, Seil packen. Habe gelernt, wie das geht: Erst ein kleiner, dann ein kräftiger Zug: Die Glocke erklingt. Jetzt gleichmäßig ziehen. Die Kinder draußen rennen jetzt schreiend und lachend nach Hause. Stolz erfüllt mein Knabenherz: Ich bin es, der sie jetzt zwingt heimzugehen. Abendläuten heißt: Schluss für heute, ab nach Hause.
Die Gebetsglocke
Die Gebetsglocke musste natürlich auch beim Gottesdienst zum Vaterunser geläutet werden. Das war Aufgabe der Konfirmanden. Wenn der Pfarrer sagt: „Lasst uns beten“, steigen zwei Jungs den Kirchturm hoch. Einer zwängt seinen Körper durch ein kleines Fenster. Dort sieht und hört er, was unten geschieht. Beim „Amen“, winkt er. Dann zieht der andere am Seil, die Glocke erklingt. Doch dann heißt es aufpassen: Sieht er die winkende Hand erneut, muss er das Seil fest umklammern und mit seinem Körpergewicht die schwingende Glocke zum Stillstand bringen. Das gelang nicht immer. Läuten war nichts für unterernährte Knaben. Die Folge: In den Segen hinein klingt mehrmals ein verlorener Glockenton. Der Pfarrer blickt irritiert nach oben, doch der Bub ist schon weg vom Fenster. Die anderen Konfirmanden vorn auf der ersten Bank können sich kaum das Lachen verkneifen.
Unser Dorf hatte Glück. Die beiden abmontierten Glocken überlebten den Krieg, wurden später feierlich wieder eingehängt. Und bald darauf wurde ein von einer Uhr gesteuertes maschinelles Läutewerk eingebaut. Seitdem wird die Vaterunserglocke per Knopfdruck zum Läuten gebracht. Eine recht abenteuerliche Zeit ging zu Ende.